Freitag, 8. November 2013

Herta Mueller - Atemschaukel (Drama, 2009)



Was einem hier mit gleichmaessig wacher Stimme erzaehlt wird, das weiss man von der ersten Zeile an ohne jeden Zweifel, ist alles wahr, ist alles so gewesen, ob nun das Wort Roman auf dem Buch steht oder nicht. Man schaemt sich zunaechst, von all dem nichts gewusst zu haben, und ist zugleich mehr als heilfroh, dass man selbst so etwas nicht erleben musste, was sich zusammen ein wenig anfuehlt, als habe man sich vor etwas gedrueckt und geniere sich jetzt dafuer.

„Atemschaukel“ ist ein Lager-Buch. Rumaenien, dessen Koenig unter dem Druck der Sowjets im August 1944 den faschistischen Diktator Jon Antonescu abgesetzt und dem bis dahin mit Rumaenien verbuendeten Deutschland den Krieg erklaert hatte, wurde Anfang 1945 von den Russen gezwungen, saemtliche rumaenischen Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren, Maenner wie Frauen, zur Zwangsarbeit in ukrainischen Lagern auszuliefern. Es waren brutale Reparationsleistungen in Menschenform zum Wiederaufbau in der kriegszerstoerten Ukraine. Diese politischen Hintergruende spielen in diesem Buch jedoch kaum eine Rolle, es gibt die Herren des Lagers, die Russen, und es gibt die Arbeitssklaven, zu denen der Erzaehler dieses Buches gehoert. Leo Auberg wird er genannt, ein Siebzehnjaehriger, der schon seit einer Weile davon traeumt, seiner Lebensenge zu entkommen und Neues, Fremdes, Anderes zu erfahren, was ihm dann ja auch auf graessliche Weise ermoeglicht wird.

Die Verhaftungen, die Viehwaggons, das Lager. Man weiss davon aus den anderen gewaltigen, gewaltbestimmten Lager-Buechern, denen sich dieses an die Seite stellt, von Imre Kertész oder Primo Levi etwa. Aber hier handelt es sich nicht um ein Vernichtungslager. Dies waren Arbeitslager, nicht so todesgewiss, so viele dort auch immer sterben mussten, es machte gleichsam auf sinnlose Art Sinn, um sein Leben zu zittern, Tag fuer Tag, Nacht fuer Nacht, Jahr um Jahr. Und hat man dann noch, wie Leo, von der Grossmutter den Satz mit auf den Weg bekommen „Ich weiss, du kommst wieder“, dann bleibt man all die Jahre – und bei Leo wurden es fuenf Jahre – einer, der um sich das Toeten und das Sterben sieht und doch die Gewissheit nicht aufgibt, dass er da wieder rauskommt.

Freundlicherweise wissen auch wir das von Anfang an, denn es ist Leo selbst, der die Geschichte erzaehlt. Es ist seine Geschichte, aber es ist auch die Geschichte all derer, die mit ihm dort waren und die nicht alle zurueckkehren, ja es ist auch die Geschichte aller, die in vergleichbaren Hoellen waren. Dort wird gegen jedes Individuelle das immer gleiche Schicksal verhaengt, und das macht fast vergessen, dass das Elend, das Leiden selbst immer den Einzelnen trifft, diese Gewissheit bleibt. (Es gibt in diesem Buch keine Fragezeichen.) Und so hat Herta Mueller dieses Buch auch geschrieben: als die Geschichte eines Einzelnen und die aller Geschundenen zugleich. Dafuer steht ihr eine Sprache zur Verfuegung, die ausserordentlich ist, ein Ton von grosser erzwungener Nuechternheit, als muesse immer wieder zwischen zwei Saetzen ein Schreien unterdrueckt werden. Zugleich verfuegt sie ueber eine poetische Erfindungskraft, die den Schrecken und das Schreckliche in Bilder fassen kann, die selbst dem Elend seine Wuerde lassen.

Denn furchtbarerweise ist es ja auch banal, wenn einer Hunger hat. Oder Angst. Oder friert. Oder sich anscheisst. Von der „Hautundknochenzeit“ ist da die Rede, vom „Hungerengel“, von der „Atemschaukel“, das sagt alles. „Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Daerme.“ Oder: „Ich wollte langsam essen, weil ich laenger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger sass wie ein Hund vor dem Teller und frass.“ Oder: „Das Zopfende hing heraus, als haette sie von einem kleinen braunen Vogel schon die Haelfte abgebissen.“ Saetze wie diese, die einem das Herz zerreissen, kann nur Herta Mueller, und diese Saetze sind schoen, sie sind von einer atemberaubenden Schoenheit. Dass eine so arme Geschichte, dass ein so armes Lebensstueck mit so viel Schoenheit erzaehlt wird, ohne jeden Schnoerkel, ganz der Wahrhaftigkeit verpflichtet, das macht nicht zuletzt die Groesse dieses Romans aus.
Einmal begegnet auch Leo dem Schoenen, unversehens, als er auf einer seiner Betteltouren zu einer Frau kommt, die ihren Sohn vermisst, an den Leo sie erinnert: Sie stellt ihm eine gute Suppe hin, und als ihm dann das Wasser aus der Nase laeuft, da schenkt sie ihm ein feines Taschentuch, so fein, dass er es nicht benutzen kann, nur sorgsam aufbewahren als ein Stueck aus einer Welt, die ihm abhanden gekommen ist.
Dies ist ein ganz einfaches Buch. Nichts Vertracktes kommt hinein, kein Psychologisieren, auch nicht, wenn es von der schwachsinnigen Planton-Kati heisst: „An ihr koennen wir gutmachen, was wir einander antun.“ Kein Urteilen, das sich nicht von selbst ergaebe. Wenn etwas kompliziert ist, dann so: Stehlen ist stehlen, aber was ist dann stehlen aus Hunger? Wenn’s aber die eigene Frau ist, der man die Suppe wegloeffelt? Der Kumpel, dem man das Brot klaut? Die Fragen sind einfach, ach, und die Antworten sind es letztlich auch. So wie das Leben, das Leo und die anderen dort leben, auf fatale Art auch einfach ist, und nicht anders wird uns davon berichtet: sachlich. Die Sachen sagen alles: der Zement, der Schnee, die kaputte Kuckucksuhr, die Huehner, „mager wie Wolkenfetzen“, die Kartoffeln, die Kartoffelschalen, das Traeumen von Kartoffeln. Oder das Brot, das am Brotende gebackener ist als in der nassen Mitte, also auch leichter, also hat man mehr Brot, wenn einem das Eckstueck abgewogen wird. Oder: „Speichel macht die Suppe laenger.“
„Das Lager ist eine praktische Welt“, heisst es einmal, und wenn man die Leichen im Winter erst gefrieren laesst und dann zerhackt, muss man kein Grab schaufeln, da reicht ein Loch.

In einem kurzen Nachwort berichtet Herta Mueller von dem Entstehen dieses Buches: Sie schrieb zunaechst Gespraeche mit Deportierten aus ihrem Dorf auf und tat sich dann mit Oskar Pastior zusammen, der deportiert worden war und ihr nun von seinen Erfahrungen aus der Lagerzeit erzaehlte. Aus diesen Gespraechen erwuchs die Idee, ein Buch gemeinsam zu schreiben, was, wenn man Pastiors so ganz und gar nicht erzaehlende Literatur kennt, nicht leicht vorstellbar ist. Dann starb Pastior 2006 ueberraschend, so dass Herta Mueller sich nach einer langen Atempause entschloss, den Roman alleine zu schreiben. „Doch ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag haette ich es nicht gekonnt.“

So ist dieses Buch Herta Muellers auch eine Hommage an Pastior geworden, dessen Wortfantasien sie den Leo Auberg ueberaus treffend so umschreiben laesst: „Es gibt Woerter, die machen mit mir, was sie wollen. Sie sind ganz anders als ich und denken anders, als sie sind. Sie fallen mir ein, damit ich denke, es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn ich das gar nicht will.“ Schoener und einfacher kann man es nicht sagen.

 

Jetzt bei Amazon kaufen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen